Mehr Seehandel, weniger Armut?

Eine wichtige Studie zu den Auswirkungen des internationalen Handels zeigt: Mehr Protektionismus trifft die Ärmsten, weniger Beschränkung hilft allen.

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Die Corona-Pandemie darf nicht ausgerechnet die ärmsten Länder am stärksten treffen. Sie droht, die großen Fortschritte in der Armutsbekämpfung, die in den letzten Jahrzehnten erreicht wurden, zunichte zu machen. Die meisten Menschen sind sich einig: das darf nicht passieren! Was dafür geschehen muss, ist weit weniger klar.

Die universelle Antwort auf wirtschaftlichen Rückgang und Ungleichgewichte im internationalen Handel scheint immer häufiger der Ruf nach mehr Protektionismus zu sein. Nicht nur Donald Trump tönte, dass höhere Zölle, Handelskriege und die erzwungene Rückkehr von ausgelagerten Industrien die „gute alte Zeit“ zurückbringen würden.

Eine solche Politik ist populistisch und viel zu simpel – aber sie verfängt bei vielen Wählern. Auch in Europa wird der Ruf nach mehr Autarkie lauter. COVID-19 scheint dafür schlüssige Argumente zu liefern. Hatte es nicht Engpässe bei der Versorgung mit Masken gegeben? Also muss die Produktion wieder zurück nach Europa. Und die Produktion von Medikamenten und, und, und…

Seehandel macht Wachstum möglich

Aber kann dieser Ansatz ganz generell funktionieren? Das wollte der internationale Reederverband ICS genauer wissen und hat deshalb bei einem der renommiertesten Handelsökonomen eine Studie in Auftrag gegeben. Die Fragestellung für Craig VanGrasstek von der Universität Harvard lautete: Sind mehr Handel und der Abbau von Handelsschranken gut, schlecht oder neutral für den Wohlstand? Und zwar für den Wohlstand in allen Ländern, nicht nur für einige ausgewählte Industrienationen. Die folgende Karte zeigt die durchweg positiven Ergebnisse für alle untersuchten Länder.

Die Untersuchung mit dem Titel „Protectionism in Maritime Economies“ kommt zu einem eindeutigen Ergebnis: Maritimer Handel macht Wachstum und nachhaltige Entwicklung erst möglich. Und vielleicht noch wichtiger: Je mehr günstiger Seetransport, desto mehr gleicht sich der Wohlstand in der Welt einander an. Dagegen senkt mehr Protektionismus den Wohlstand für alle und öffnet zugleich die Schere zwischen Arm und Reich noch weiter.

Genau hier liegt auch das populistische Missverständnis. Zölle und Handelsschranken machen einen selbst zwar nicht reicher, aber dem anderen ergeht es noch viel schlechter. Wer den eigenen und den Wohlstand des Handelspartners heben will, muss Zölle und andere Barrieren herunterfahren.

Globalisierung ist nicht Wurzel allen Übels

In den vergangenen Jahren schien es im öffentlichen Diskurs immer schwieriger, für die Globalisierung und den Nutzen von weltweiten Handelsketten einzutreten. Linke und Rechte waren sich darin einig, dass Globalisierung die Wurzel allen Übels sei. Dabei wiesen sie einseitig auf negative Folgen wie Umweltzerstörung und Ressourcenausbeutung hin. Dass mehrere Hundert Millionen Menschen seit 1960 allein aufgrund des erweiterten Handels den Sprung aus der Armut geschafft haben, passte da nicht ins Bild.

Alle Länder brauchen für den internationalen Handel die Seeschifffahrt. Das gilt für Rohstoffe ebenso wie für Technik, Konsumgüter und nicht zuletzt medizinische Produkte. Angesichts der wachsenden Weltbevölkerung wird es immer wichtiger, dass Güter zuverlässig am richtigen Ort landen. Sonst drohen Hunger und medizinische Unterversorgung immer größeren Ausmaßes. Die Corona-Pandemie hat zahlreiche Regierungen intuitiv in den Verteidigungsmodus fallen lassen: Grenzen schließen und Produktion zurückholen. Das fühlt sich sicher und richtig an, wirkt aber meist kontraproduktiv.

Zölle und Exportverbote in nie gekanntem Ausmaß

Die Weltbank und Global Trade Alert haben in den vergangenen zwölf Monaten Hunderte neuer Zölle und anderer Handelshemmnisse verzeichnet. Es wurden in noch nie gekanntem Ausmaß Exportverbote und Lizenzverpflichtungen eingeführt. Dazu kam, dass die WTO, die ja genau dafür da ist, Handelshemmnisse abzubauen, in den letzten vier Jahren von den USA faktisch lahmgelegt worden war. Die Organisation hat im November 2020 errechnet, dass Importe im Wert von 1,7 Billionen Dollar von den neuen Restriktionen betroffen sind.

Die ICS-Studie listet die protektionistischen Politikansätze im Detail auf und beziffert sie. Es werden jene Maßnahmen benannt, die eine wirtschaftliche Erholung jetzt hemmen, aber meist nicht öffentlich diskutiert werden. VanGrasstek zeigt in der Studie auch, dass nicht nur Zölle Probleme bringen. Auch die direkte Benachteiligung ausländischer Unternehmen oder die protektionistische Konzentration von Hafendienstleistungen in den Händen einheimischer Unternehmen hindern Entwicklung. Solche groben Mittel können sogar bis zu fünf Mal so negative Effekte haben.

Um konkrete Verbesserungen vorzuschlagen, hat die Studie den PRIME-Index (Protectionism in Maritime Economies) eingeführt. Er zeigt ein globales Ranking von 46 Staaten nach dem Grad der eingesetzten Handelshemmnisse. Deutschland liegt hier auf einem relativ guten 12. Platz.

Vier Szenarien für den Abbau von Handelsschranken

Quelle: ICS / Craig VanGrasstek (Harvard University): Study on „Protectionism in Maritime Economies”; Februar 2021

Äußerst ehrgeizig

Alle Länder reduzieren oder beseitigen ihre tariflichen und nicht tariflichen Beschränkungen um 50 % durch eine umfassende Reform.

Durchschnittliche BIP-Steigerung der Volkswirtschaften
Im Bereich von 0,3 % bis 3,4 %

Bescheidener und gleichberechtigter Ehrgeiz

Alle Länder reduzieren oder beseitigen ihre tariflichen und nicht tariflichen Beschränkungen um 10 % durch multilaterale und inländische Reformen, unabhängig vom Einkommensniveau.

Durchschnittliche BIP-Steigerung der Volkswirtschaften
Zwischen 0,1 % und 0,3 % für die meisten Länder, und 0,4 bis 0,6 % für einige andere.

Bescheidener und ungleicher Ehrgeiz

Länder mit hohem Einkommen reduzieren oder beseitigen ihre Zölle und nicht tarifären Beschränkungen um 10 %, alle anderen Länder um 5 %.

Durchschnittliche BIP-Steigerung der Volkswirtschaften
Die Gewinne wären geringer, insbesondere für Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen.

Nur Zölle und Handelsabkommen

Alle Länder reduzieren oder beseitigen ihre traditionellen Zollbeschränkungen um 10 %, aber lediglich auf der Grundlage von Gebühren, die nur für die eingegangenen Verpflichtungen der Länder in Handelsabkommen gelten.

Durchschnittliche BIP-Steigerung der Volkswirtschaften
Für die durchschnittliche Volkswirtschaft liegen die Gewinne nur bei etwa 25 % dessen, was sie unter dem ehrgeizigeren Szenario 2 erreichen würden.

Die vier möglichen und realistischen Szenarien aus dieser Grafik werden in der ICS-Studie skizziert. Die ambitionierteste Variante geht davon aus, dass alle Länder die Handelsrestriktionen um 50 Prozent abbauen, das vorsichtigste Szenario setzt wenigstens noch auf 10 Prozent. Der vollständige Abbau aller Handelsschranken wurde nicht berechnet, da er unrealistisch ist.

Die positiven Effekte sind in allen Fällen eindrucksvoll. Weniger Protektionismus im ehrgeizigen Szenario 1 könnte den globalen Wohlstand um bis zu 3,4 Prozent anheben. Die größten Effekte würden dabei in den Entwicklungs- und Schwellenländern erzielt. Mehr Handel bedeutete also weniger Armut für viele Millionen Menschen. Niemandem würde es schlechter gehen. Durchsetzen können so eine Politik aber nur Regierungen, die auf Fakten statt auf Emotionen setzen.

Unser Autor Dr. Max Johns ist Professor für Maritime Wirtschaft an der HSBA Hamburg School of Business Administration. Von 2012 bis 2019 war er Geschäftsführer beim Verband Deutscher Reeder (VDR), den er weiter in internationalen Gremien vertritt.

Veröffentlicht: 11.06.2021